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13. Januar:


Lesen in alten Tagebüchern, geschrieben mit 13, 14, 15 Jahren. Erinnerungen hervorholen. Es dreht sich nahezu immer nur um eins, Sehnsucht nach Geborgenheit. Selten direkt, viel öfter verschlüsselt hingeschrieben. Sehnsucht nach Geliebt- und Akzeptiertwerden, Wärme, Zärtlichkeit. Geschrieben in einer Zeit, in der diese Worte Fremdworte waren. Zu den unaussprechlichen Worten gehörten, von Schwäche und Peinlichkeit zeugten.

Schwache und peinliche Gefühle lehne ich ab, seit ich denken kann, Schmusen und Knuddeln ist peinlich. Doch manchmal kam meine Oma zum Gute-Nacht-Sagen in mein Zimmer, da packte ich ihren Arm und wollte nicht mehr loslassen, er war so schön warm. Ich wollte, daß sie ihn abschneidet und mir da lässt, aber das tat sie nicht.

Alles Gefühlige ist peinlich, Schwäche ist peinlich, weiblich sein ist Schwäche, ein richtiger Junge weint nicht und Indianer kennen keine Schmerzen. Keine Schmerzen, keine Angst, keine Tränen. Und wenn, dann versteckt, nur nichts zugeben.

Vor allem nicht die Sehnsucht.

Und doch dreht sich alles darum. Und was für Irrwege bin ich gegangen, über was für Holzwege geschliddert und wie oft landete ich in Sackgassen. Um sie gestillt zu kriegen.

Und dann sagten sie mir, ich solle zu meinen Gefühlen stehen. Was für Gefühle, bitte schön? Sie waren wohl immer da, versteckt, getarnt, krank, sterbend, aber nicht verstorben.

Längst brüchig gewordene Mauern fielen um, Panzerschicht um Panzerschicht trug sich ab, da kamen Weichheit, Gefühligkeit, Sehnsucht an´s Tageslicht.

Diese Gefühligkeit bringt wunderschöne Stunden, eine Ahnung dessen, wie Leben sein könnte. Aber auch Tränen. Jahrelang nicht geweint, jetzt weine ich ohne Ende, aber was hab ich davon? Am Weinen stirbt man nicht, sagte gestern jemand. Alice ist im Tränensee auch nicht ertrunken.

Das Errichten der Traumschlösser mag nicht gelingen, diese Inseln, auf denen ich mich ausruhen konnte, die Seifenblasen, auf denen ich davonschwebte. Was soll jemand machen, der glaubt nichts mehr zu haben, keinen Panzer, keine Traumschlösser und in sich ohnehin nichts findet?

Die nächsten vier oder fünf Jahre möchte ich noch funktionieren. Ein überschaubarer Zeitraum.

Die Frage ist, wie verbringe ich diese Jahre? Rollenspiel? Verdrängen? Traumschlösser vielleicht. Aber dann keine Realität mehr.


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