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06. Januar:


Manchmal schreie ich im Schlaf, öfter aber beisse ich die Zähne zusammen. So arg, daß es knirscht. Letzte Nacht hab ich mir ein viertel Zahn einfach abgebissen. Es muss doch einiges an Kraft nötig sein, um einen gesunden Zahn einfach abzubeissen. Und ich spüre kein Fitzelchen dieser Kraft.

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Sie sitzt in der Badewanne und duscht. Die Kraft reicht nicht zum Stehen. Der Duschkopf liegt auf den Beinen, die Kraft reicht kaum zum Halten, nur ab und zu hebt sie ihn an, um die frierenden Schulter wasserberieseln zu lassen. Das Wasser ist heiß und macht müde. Sie starrt auf die Wunden an ihren Beinen, von denen der alte Schorf sich langsam zu lösen beginnt. Sie starrt auf die Wunden, aus denen das Blut frisch fliesst. Alles verwirbelt und wird hinweggespült. Sie wird schläfrig und starrt weiter.

Schutzlos wie nie.

Kein Chamäleon mehr. Viel leichter noch war das Leben, als sie mühelos in verschiedene Rollen schlüpfte, die ihr passten wie fast angegossen - "Man kann nicht aus seiner Haut" - o doch, Oma, da hast Du Dich getäuscht, man muss es sogar um zu überleben. Wie kam sie nur an diesem Punkt, an dem sie ihrer Umwelt noch etwas vorspielen kann, jedoch nicht mehr sich selbst?

Kein Reh mehr. Kein Wegrennen, kein Fliehen mehr möglich. Das Wissen um die Sinnlosigkeit der Flucht lähmt.

Keine Schildkröte mehr. Das Schlimmste, sie seufzt, während sich die Hand mechanisch hebt, linke Schulter, rechte Schulter. Kein Panzer mehr, unter dem Empfindlichstes gut verborgen war. Gelegentliches Hervorlugen hätte genügt. Sie hat ihn abgelegt. Er ist verloren.

Kein Tarnen, kein Fliehen, kein Verstecken mehr. Es bleibt pures Menschsein.

In der Zeitung hatte sie Tips gelesen, Tips für Menschen, VIP genannt, wie "man richtig wichtig" wird. Richtig Wichtigsein scheint ihr eine beliebte Variante der Ablenkung, Ablenkung vom Menschsein. Sie hat sich gesehen als Mensch; ohne Maske (und sie mag ihr allgemein als hübsch bezeichnetes Äußeres nicht, eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, die sie sich nicht ausgesucht hat, vielleicht wäre das Leben mit häßlichem - und somit ehrlichem - Körper leichter zu ertragen); ruhend, ohne abgelenkt zu sein - ausnahmsweise ohne abgelenkt zu sein! - und ohne den schützenden und zugleich verbergendem Panzer.

Dieses Bild in Worte zu fassen gibt sie sich keine Mühe. Keine Worte werden dem Bild gerecht.

Das Wasser wirbelt derweil klar, es hat aufgehört zu bluten, die Schnitte waren nicht tief, auch diesmal werden keine Narben bleiben, in paar Wochen ist nichts mehr zu sehen. Sie verschließt die Wanne und lässt das heiße Wasser einströmen. Wie starb eigentlich Uwe Barschel? Es scheint kein schlechter Tod in der Badewanne, zusehen, wie das Blut mit dem Wasser verwirbelnd hinwegfliesst, müde sein und müder werden, das Rauschen des Wassers wäre das letzte Wahrnehmbare - nein, sein Kopf --- Sein Kopf lag verdreht wirkend auf der rechten (?) Schulter. Sie stellt es sich zugleich entsetzlich und wunderbar befreiend vor. So schwach werden, daß sie den Kopf nicht mehr oben halten kann, er will wegsinken, sie will ihn oben halten, den Kopf sinken lassen käme einem Kontrollverlust gleich, sie kämpft um das Gleichgewicht ihres Kopfes, während das Wasser in den Ohren rauscht und das Blut ungehemmt und ungerinnend ihren Körper verlässt, der Moment wird kommen, in dem sie nachgeben muss, sich ergeben muss,Niederlage und Sieg zugleich.

Sie stellt das Wasser ab, es ist nun still, sehr still, ihre Ohren können ausruhen, die Augen beginnen ihre Starrheit zu lösen und wieder zu sehen. Sie sieht ihren nackten Körper. Steigt aus der Wanne, trocknet sich ab und zieht sich an.

Schlafen möchte sie, doch sie fürchtet sich davor. So viele Jahre hat sie nicht geweint, nun kann sie nur noch weinend einschlafen, sie geht nur noch schlafen, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

Wie vorhin das Wasser beginnen nun ihre Gedanken zu verwirbeln, es ist dieser ihr wohlvertraute Zustand, Wörter im Kopf, scheinbar zusammenhangslos doch zusammenhängend, je angestrengter sie nachdenkt desto dichter wird die Wirbelspirale, " Kontrollverlust, Tränen,Panzer, Gefühle"
Spirale.

Sie nimmt eins der alten Tagebücher und liest:
"Letzte Nacht Gedanken über die meine Zerrissenheit. Sexy Nadja, romantische Jenny, fröhliche Vicky....."

Bitter erinnert sie sich an die Rollen ihrer Kindheit und Jugend. Je nach Bedarf war sie, was sie nicht war. Ohne dies kein Überleben möglich. Keine andre Möglichkeit gesehen oder gehabt, egal. Falsch gemacht.

"Und die Spirale im Kopf wirbelte, daß fast keine Bewegung spürbar war. Und mein Körper war wie gelähmt. Und ich brachte keinen Gedanken mehr in meinen Kopf, da war NICHTS außer dem rasenden unspürbaren alles ausfüllenden Stillstand. Welche Mühe, mich zu bewegen, nur ein Zentimeter Lageveränderung. Gedanken, nur EINEN neutralen Gedanken fassen, aber keinen falschen, der schubst mich rüber. Die Angst vor´m Durchknallen."

Sie starrt auf das vor 3 Jahren Geschriebene.

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Damals war noch Hoffnung. Eine erträumte Hoffnung? Ich würde gern ein Buch lesen, es würde mir besser gehen. Doch da ist der schale Beigeschmack der Ablenkung. Egal, was ich tue, es dient der Ablenkung. Taugt das Leben nur dazu, um von sich abzulenken? Lenkt das Leben vom Leben ab?


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