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04. Januar:


Die vielen alten Frauen, als "verwirrt" geltend schlurfen sie über Altenheim- und Krankenhausgänge. Eine der alten Frauen lag zuhaus im Bett, ihr Körper war zu schwach zum Schlurfen, aber zu stark zum Sterben. Manche Leute liegen stumm in ihren Betten oder bewegen ihre Körper schweigend. Die alte Frau erzählte. Wirres Zeug, wie es allgemein hieß. Sie schrie, wegen der Messermänner in ihrem Bett. Berichtete von Christbäumen "da oben", auf die Zimmerdecke deutend. Erst Jahre nach ihrem Tod erfuhr ich von den bombenwerfenden Fliegern des Zweiten Weltkriegs, umgangssprachlich Christbäume genannt.

Eine andre alte Frau erzählte von dem Mann, der nachts auf ihrem Balkon wohnt. "Es ist die neue Art des Wohnens", manchmal kommt er in´s Zimmer, dann hat sie Angst, bisher blieb er aber hinter dem Vorhang. Ich weiß zu wenig über ihr Leben vor dem Alter, um den Hintergrund der "Phantastereien" erkennen zu können, bin mir aber sicher, daß es ihn gibt.

Gibt es einen Unterschied zwischen Realitätsverlust und Realitätsverschiebung?

Ich fühle mich als alte verwirrte Frau. Erzählend und in veständnislose, desinteressierte Krankenschwesternaugen blickend. Erzähle von meinen Kindern. Die KS bettet mich und meint augenverleiernd im Weggehen, ich solle doch jetzt endlich brav sein. Ich rufe nach meinen Kindern. Keins kommt. Das eine, das ich oft so sträflich vernachlässigt habe, nicht. Das tote Kind kommt auch nicht. Ich sehne mich nach diesen beiden Kleinen und nach denen, die ich gern noch gehabt hätte, sehne mich so sehr, da nehmen sie Gestalt und Wesen an, oh schön!, endlich sind sie da, ich hab so lange gerufen und jeden nach Euch gefragt, und ich erzähle Gute-Nacht-Geschichten und singe Lieder. "LaLeLu" geht immer noch.

Jemand rüttelt mich, es ist der Mann, der Mann mit dem Messer, ich höre eine Stimme und fühle zugleich meine Beine, die auseinandergedrückt werden, ich will mich wehren, doch bin zu schwach, wie immer, es hat ja doch keinen Sinn, spüre was Kaltes, erkenne die Stimme der KS, sie wäscht mich.

Als sie weg ist, sitzt der Mann höhnisch mit der Hand auf seinem Oberschenkel klopfend in der Zimmerecke, er soll weggehen, ich schreie wieder, die KS kommt und schimpft und sagt ich soll keinen Scheiß erzählen, da sitzt niemand. Doch ich weiß es, ich kenne ihn, habe es schon so oft erlebt, warum soll es anders sein, erst verhöhnt er mich, dann droht er mir, währenddessen säuft er, in meinem Kopf rotiert es, soll ich schweigen, vielleicht beruhigt er sich, soll ich mit ihm reden, vielleicht lässt er mich diesmal in Ruhe, doch egal was ich mache, er kommt doch und macht mit mir, was er will, ich sollte gehen, kann nicht. überall blaue Flecken, ich wollte weggehen und bin dabei aus dem Bett gefallen, die KS hat gesagt, wenn das noch einmal passiert, dann muss sie mich festbinden.

Ich spüre, daß etwas nicht stimmt mit mir, aber ich weiß nicht, was es ist. Ich spüre es, weil die Menschen sich mir gegenüber eigenartig verhalten, sehe es in ihren Blicken.

Ich freue mich, da kommt die nette Frau, die mir immer aufmerksam zuhört. Ich erzähle ihr von dem Mann und daß ich nicht weiß, was ich machen soll, sie hört mir zu und lächelt mich manchmal an, während sie das Zimmer wischt. Sie schimpft nie mit mir, sie versteht mich, ich sehe es in ihren Augen, und als sie geht, sagt sie mir ein paar Worte, die ich nicht verstehen kann, ich glaube, es ist griechisch.

Ich denke an die Zeit in Griechenland, dort wo die Wäsche auf der Leine tanzt, dort hat es mir gefallen. Dort war es leicht und warm. Sonst war es immer kalt. "Stimmt das?" fragt mein Geliebter traurig. Ich sehe ihn nicht, doch ich höre ihn. Ich rufe nach ihm, wo bist Du, komm zu mir, lass mich nicht alleine sein. Er streichelt mir über die Haare, eine warme Berührung, ich schmelze, und dann geht er weg und ich habe soviel Angst vor dem Alleinesein,ich rufe und weine und will ihm nachlaufen und die Krankenschwester kommt und bindet mich fest, zwingt mich Medizin zu schlucken und ich schlafe ein.

Als ich aufwache bin ich allein und weiß, daß ich es bleibe. Da ist kein Kind, kein Messermann und mein Geliebter ist auch nicht da. Was mir bleibt ist die Hoffnung bald zu sterben.


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Ich stehe meinem Zustand fassungslos, ausgeliefert gegenüber.
Wo ist die Hoffnung auf den Sinn geblieben?
Sinn?


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